Gesundheitsrisiko Sitzen!? Zehn erstaunliche Fakten und was wir daraus lernen können Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e.V.
3 2 Vorwort 4 Grußwort 6 Themen 1. Wir sitzen zu viel und zu lange! 8 2. Sitzen macht dick und verkürzt unser Leben! 10 3. Sitzen macht dumm und psychisch krank! 12 4. Sitzbelastungen lassen sich nicht durch Freizeitsport ausgleichen! 14 5. Bewegung muss integraler Bestandteil des Alltags sein! 16 6. Wenn schon Sitzen, dann aktiv! 18 7. Sitzroutinen durchbrechen – steht mal wieder auf! 20 8. Das Büro als Bewegungsraum 22 9. Bewegungsverführer helfen uns aus der Sitz-Trägheitsfalle! 24 10. Lebenskultur – Bewegungskultur! 26 Literaturverzeichnis 28 Impressum 31 Inhalt Kinder 9,5 Stunden /Tag* die Hälfte der Berufstätigen 11,5 Stunden / Tag ** *Altenburg 2015, Huber 2017 ** Kiechle 2017 Wir sitzen uns durch unser Leben
5 4 VORWORT Der Arbeitsplatz ist heute für die meisten Menschen für mindestens acht Stunden am Tag ihr Lebensraum – im Idealfall ein Raum des Wohlbefindens, der individuellen Gesundheitsentfaltung sowie des sozialen Austauschs. 83 % der Menschen legen deshalb gesteigerten Wert auf eine gute Arbeitsumgebung und -ausstattung (StepStone 2011). Für ein wettbewerbsfähiges Unternehmen mit motivierten Mitarbeiter/-innen sollte folglich die Arbeitsplatzzufriedenheit, die geistige Fitness der Beschäftigten ebenso wichtig sein wie deren soziales Wohlbefinden und die körperliche Gesundheit. Stundenlang mehr oder weniger passiv auf einem Bürodrehstuhl zu verharren erfüllt diesen ganzheitlichen Ansatz von Gesundheitsförderung/Gesundheitserhaltung nicht. Es gibt in der Zwischenzeit evidente Erkenntnisse, dass Menschen auf regelmäßige körperliche Aktivität im Alltag angewiesen sind. Bereits kleine und mittlere Aktivitäten regen Körper- und Gehirnstoffwechsel an und sorgen somit für geistige und körperliche Vitalität. Menschen, die sich regelmäßig bewegen, fühlen sich fitter, können berufliche Herausforderungen besser bewältigen und sind insgesamt zufriedener. Ziel dieser Broschüre ist es, empirisch und konzeptionell zu verdeutlichen, dass Dauersitzen kein biologischer Zustand ist. „Nur wer sich regelmäßig bewegt fühlt sich wohl und kann etwas bewegen!“ Eine auf Selbstwirksamkeit basierende Veränderung des Lebensstils und ergo-dynamische Verhältnisse sorgen für ein körperlich aktiveres Arbeitsverhalten sowie einen nachhaltigen Einfluss auf Gesunderhaltung, Arbeitsmotivation und damit Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Die als Argumentationsgrundlage herangezogenen Daten und Fakten basieren auf einer selektiven Literaturübersicht von Übersichtsarbeiten und auf aktuellen Primärstudien. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e.V. und die Aktion Gesunder Rücken (AGR) e. V. fördern Konzepte zur Gestaltung einer bewegenden Bürokultur, in der sich körperliche Aktivitäten spontan und bedarfsgerecht entfalten können. Dr. Dieter Breithecker Leiter der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e.V.
7 6 Liebe Leser, Rückenschmerzen sind eine echte Volkskrankheit – es gibt kaum jemanden, der noch nie von davon betroffen war. Die Zahlen an Rückenschmerzpatienten sind seit Jahren konstant hoch und stellen damit nicht nur ein persönliches, sondern längst auch ein volkswirtschaftliches Problem dar. Um dem entgegenzuwirken und um umfassend über die Prävention und Therapie von Rückenschmerzen aufzuklären, haben wir bereits Mitte der 90er Jahre unseren Verein, die Aktion Gesunder Rücken (AGR) e. V. gegründet. Ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit ist das AGR-Gütesiegel, das wir an Produkte verleihen, die nachweislich einen Beitrag zu mehr Rückengesundheit leisten. Und nicht nur das: Neben ergonomischen Alltagsgegenständen können heutzutage auch ganze Konzepte und bewegte Lebensräume mit dem AGR-Gütesiegel ausgezeichnet werden. Wir wissen inzwischen, dass Sitzen ein hohes Gesundheitsrisiko darstellen kann. Deshalb ist es uns wichtig, zusammen mit der BAG auf diese Problematik ganz gezielt hinzuweisen. GRUSSWORT AKTION GESUNDER RÜCKEN (AGR) E. V. 24 Stunden rückengerecht Gesunder Rücken e. V. Um den Gesundheitsrisiken durch den Sitzmarathon, den viele von uns täglich absolvieren, entgegenzuwirken, ist die Art und Dauer des Sitzens von wesentlicher Bedeutung. Insbesondere stundenlanges starres Sitzen schadet unserem Rücken massiv. Je dynamischer wir sitzen und je mehr wir uns auch am Arbeitsplatz bewegen, desto förderlicher ist dies für unsere Gesundheit. Wir haben deswegen bereits verschiedene Konzepte für Sitzmöbel mit dem AGR-Gütesiegel zertifiziert, die Bewegung nicht nur zulassen, sondern fördern. Neben klassischen Bürostühlen mit ergonomischen Verstellmöglichkeiten gibt es heutzutage spezielle Aktivstühle und Aktivbürostühle, die für mehr Dynamik am Büroarbeitsplatz sorgen. Sie verfügen beispielsweise über mehrdimensional bewegliche Sitzflächen, die ständige Bewegungsanreize setzen und zu einer hohen Anzahl an Haltungswechseln ermuntern. Der positive Effekt: Die Bandscheiben werden nicht einseitig belastet und die tiefliegende Rückenmuskulatur wird stimuliert. Doch nicht nur der Rücken profitiert vom aktiven Sitzen, sondern es fördert auch die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit. Weitere Informationen zu rückengerechten Arbeitsplätzen und Lebensräumen, zum AGR-Gütesiegel und zu den ausgezeichneten Produkten und Konzepten erhalten Sie online unter www.ruecken-produkte.de Detlef Detjen Geschäftsführer Aktion Gesunder Rücken (AGR) e. V.
9 8 1. Wir sitzen zu viel und zu lange! Spätestens mit dem Zeitalter der Wissens- und Informationsgesellschaft, der Computerisierung und Digitalisierung haben sich die Lebensräume und damit das Verhalten der Menschen signifikant verändert. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes arbeitet heutzutage von etwa 41,5 Millionen erwerbstätigen Menschen in Deutschland knapp die Hälfte überwiegend an einem Bildschirm – Sitzzeit täglich bis zu elf Stunden.1 Der Anteil liegt in der Altersgruppe 45 bis 59 Jahre bei 73 %, in der Gruppe 60 Jahre und älter sogar bei 93 %. Auch ihre Freizeit verbringen immer mehr Menschen am Bildschirm.2 Heute sitzen wir uns, früh in der Kindheit beginnend, durch unser Leben. 1 DKV Report 2016 2 Statistisches Bundesamt 2012 Für alle nur denkbaren sitzenden Tätigkeiten finden wir zwischenzeitlich auch die dafür ergonomisch definierten „Spezial-Stühle“, wie beispielsweise den Bürodrehstuhl, den Esszimmerstuhl, den Konferenzstuhl, den Fernsehsessel, den Fahrersitz und neuerdings auch den Stuhl für die Nutzung der „Digital Devices“ (Tablet, Smartphone etc.). Sie suggerieren dem Verbraucher „Rückengesundheit“, Sitzkomfort und Leistungsfähigkeit, geben ihm damit aber auch ein Gefühl falscher Sicherheit. Denn egal, wie ergonomisch der Stuhl letztlich ist, die negativen gesundheitlichen Auswirkungen von zu langem Sitzen bleiben. Alles wird besser und ergonomischer – die Menschen aber werden immer kränker. Wir müssen uns eigentlich nur auf unsere Entwicklungsgeschichte besinnen. Denn die in der Evolution aufgezogene Uhr tickt noch immer. Unsere Vorfahren mussten sich permanent bewegen um zu überleben und ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Aufgrund seiner Steinzeitgene bekommt dem Menschen das Dauersitzen nicht. Wir sind immer noch Steinzeitmenschen, genetisch gesehen. Jahre Epoche Bewegung / Tag 10.000 Ackerbau / Viehzucht 10 – 12 Std. 130 Industrialisierung 8 –10 Std. 20 Computerzeit 30 Min.
11 10 2. Sitzen macht dick und verkürzt unser Leben! Die Ergebnisse medizinischer Forschungsstudien der vergangenen Jahre übertreffen bei Weitem das, was man dem Sitzen bisher zugeschrieben hat: Rückenbeschwerden. Jüngste Forschungsergebnisse sind zusammengenommen so signifikant, dass sie von Magazinen und Fachzeitschriften ohne zu übertrieben zu wirken mit „Sitzen ist das neue Rauchen“, „Sitzen ist tödlich“ oder „Sitzen macht dumm“ überschrieben werden. Analysiert man die Studien, ist es vorwiegend dem passiven Sitzen geschuldet. Bei diesem sogenannten „sedentary behaviour“ ist der Energieaufwand so minimiert, dass Gesundheitsrisiken für multiple Krankheitsbilder erhöht sind.3 3 Dunstan et al. 2012 u. Katzmarzyk et al. 2009 Eine Studie des National Institute of Health Research an der University Leicester4 kombiniert die Resultate weltweit mit fast 800.000 Teilnehmern und kommt zu dem Schluss:Wer lange sitzt, steigert eindeutig das Risiko von Diabetes II, Herzkreislauferkrankungen und frühem Tod. Auch die Zusammenhänge von Dauersitzen und Krebserkrankungen erregen Aufsehen. So konnte eine im Auftrag der amerikanischen Regierung durchgeführte Studie5 belegen, dass sich die Magen- und Darmtätigkeit dauerhaft verlangsamt und das 10 % aller Darmkrebsfälle und Brustkrebsfälle auf das Dauersitzen zurückzuführen sind. Die Universität in Regensburg belegte ebenfalls den Zusammenhang von Sitzdauer und Krebserkrankungen6. Die Sitzträgheitsfalle: In den westlichen Kulturen ist der sitzende Lebensstil so dominant, dass Wissenschaftler von einer „Chairaddiction“7 (Stuhlabhängigkeit) sprechen. „First we shape our buildings and afterwards they shape us!” Winston Churchill Menschen, die mehr als sechs Stunden am Tag sitzen haben eine um 20% niedrigere Lebenserwartung.8 Wer länger sitzt, ist früher tot. 4 Wilmot et al. 2012 5 Pate et al. 2010 6 Schmid et al. 2014 7 Levine 2002 8 Wilmot et al. 2012
13 12 3. Sitzen macht dumm und psychisch krank! Eine an der University of Illinois als auch eine an der University of California in Los Angeles durchgeführte Studie belegen9, dass ein andauerndes passives Verhalten Strukturen im Gehirn abbaut und die geistige Leistungsfähigkeit negativ beeinflusst. Bei den Probanden, die zu viel saßen, war die weiße Substanz in Regionen um den Hippocampus überdurchschnittlich stark degeneriert. Die untersuchte Region um den Hippocampus ist für das Lernen und Erinnern verantwortlich. „Wer viel sitzt, hat viele (Gehirn-) Läsionen“ = Abbau von Gehirngewebe10 9 Burzynska et al. 2014; Siddarth et al. 2018 10 Siddarth et al. 2018 Stillsitzen ist unter Berücksichtigung unserer Evolution kein biologischer Zustand. Unser auf körperliche Herausforderungen trainiertes System reagiert auf Bewegungsmangel und multimediale Dauerreize mit erheblichen Stressreaktionen. Dieser Dauerstress – Ausschüttung des Stresshormons Cortisol – zerstört zelluläre Strukturen, auch die besagten im Hypocampus. Demenz als Spätfolge von zu langem Sitzen!? Die Anzahl der Demenzkranken wird sich nach WHO bis 2050 verdreifachen. Spanische Wissenschaftler fanden heraus, dass die Personen, die mehr als 42 Stunden pro Woche sitzen, ein um 31 % erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen haben11. Diese binden Ressourcen und kosten Unternehmen aber auch volkswirtschaftlich sehr viel Geld. Ca. 70 % aller Ausgaben im Gesundheitssystem sind auf die Behandlung von Zivilisationskrankheiten zurückzuführen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Stressoren in der Arbeitswelt sehr vielseitig sind und von rigiden Arbeitsplatzverhältnissen, Arbeitsdichte bis hin zu sozialen Konflikten12 reichen. Was Menschen heute von ihren Körpern und Köpfen verlangen, steht im Widerspruch zu ihrer biologischen Beschaffenheit. 11 GEO 2013, S. 137 12 s. hierzu insbesondere KKH 2006; BAuA 2013
15 14 4. Sitzbelastungen lassen sich nicht durch Freizeitsport ausgleichen! Wer ununterbrochen im Büro sitzt, kann die beschriebenen gesundheitlichen Folgen nur unzureichend durch Sport in der Freizeit ausgleichen13. Bereits vier Stunden Dauersitzen reichen aus, um unseren gesamten Stoffwechsel aus der Balance zu bringen. Für diesen ist es am besten, sich den ganzen Tag über ein bisschen, aber regelmäßig zu bewegen, statt ein paar Mal die Woche viel14. Bewegung ist mehr als Sport = Haltungs- und Bewegungsvielfalt 13 Schmid et al. 2014; Ekblom-Bak et al. 2010; Healy et al. 2008b, Henson et al. 2013 14 Levine 2002 Unser größtes Stoffwechselorgan (Muskulatur) muss regelmäßig aktiviert werden. Das ist der Schlüssel für gesunde körperlich-geistige und emotionale Wechselwirkungsfunktionen, denn die faserigen Gewebe bilden ein bedeutendes Organsystem, welches mit sämtlichen Organen des Körpers in Verbindung steht. Sobald Muskelfasern in Bewegung geraten, wird unentwegt ein Cocktail an molekularen Botenstoffen freigesetzt (u.a. Eiweißstoffe, Enzyme, Hormone), die den Stoffwechsel im gesamten Körper positiv beeinflussen. Wissenschaftler15 bestätigten beispielsweise die verbesserte Fettregulation durch das Enzym Lipoproteinlipase schon bei geringen muskulären Kontraktionen. „LPL“ (Lipoproteinlipase) – das Blutreiniger Enzym Es liegt also nah, die Bewegung vermehrt in den Alltag zu integrieren, als zu versuchen, den Mangel außerhalb der Arbeitszeit oder durch gelegentliche Bewegungspausen zu kompensieren. Mens sana in corpore sano (Decimus Iunius Iuvenalis) od er Wer den Körper vernachlässigt, der vernachlässigt auch den Geist. 15 Bey, Hamilton 2003
17 16 5. Bewegung muss integraler Bestandteil des Alltags sein! Experten fordern im „British Journal of Sports Medicine“ ein Umdenken bei Arbeitgebern: Sie sollten Büroangestellten ein vielseitiges Ausleben von körperlichen Verhaltensweisen während ihrer Arbeitszeit ermöglichen. Das bedeutet, dass Büroangestellte mindestens zwei, besser vier Stunden ihrer täglichen Arbeitszeit nicht sitzen, sondern stehen und sich im Raum bewegen16. Formel: 50 % sitzen 25 % bewegen 25 % stehen 16 Buckley et al. 2015 Eine Trendstudie des Zukunftsinstituts17 sieht einen Paradigmenwechsel auf uns zukommen und formuliert provokant: „Die Zukunft des Sports ist die Arbeit“. Damit wird exakt aufgegriffen, was die Qualität von „Life-Balance“ bestimmt und was eine veränderte Bürokultur mit neuen Arbeitsformen und physiologischen Arbeitsrhythmen erforderlich macht. In der Zukunft erfolgt Bewegung nicht mehr ausschließlich als Ausgleich zur Arbeit – Bewegung und Arbeit verschmelzen miteinander. Die Arbeitswelt wird sich der Bewegung als Form der freien, naturbedingten Bewegung wesentlich stärker annehmen müssen. Hier liegen die größten, noch völlig unzureichend genutzten Ressourcen, die Lebensqualität und damit auch die Leistungsfähigkeit bzw. Produktivität zu erhöhen. Bewegung ist Leben. Wo Bewegung verhindert wird, macht sich Krankheit breit. Die Notwendigkeit hierzu dokumentieren auch die Zahlen des Robert Koch Instituts (RKI)18. In einer Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) erreichen etwa 4/5 der Bevölkerung die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene Mindestaktivitätszeit von 2,5 Stunden pro Woche in mäßig anstrengender Intensität nicht. 350 Kalorien/Tag werden mehr verbrannt, wenn regelmäßig Bewegung in den Alltag integriert wird.19 17 Zukunftsinstitut 2014 18 Krug et al. 2013 19 Levine 2002
19 18 6. Wenn schon Sitzen, dann aktiv! Auch in der Zukunft wird – trotz aller mahnenden Hinweise – der Sitz- arbeitsplatz neben dem Arbeitstisch immer noch die Basis vieler Büros bzw. Heimarbeitsplätze sein. Selbst für kurzzeitiges Sitzen sollte ein Bürostuhl heute mehr bieten als eine Synchronmechanik und Einstellhebel für die Körperproportionen. Denn immer sitzt der ganze Mensch. Dieser benötigt Sitzfunktionen, die ein sich autonom organisierendes und bedarfsangepasstes Sitzverhalten im Fluss halten. Diesem Anspruch werden sogenannte „Aktiv-Bürostühle“ gerecht. Mit ihrer mehrdimensionalen Bewegungsfunktion der Sitzfläche bei progressiver Dämpfung – häufig als dreidimensionale (3D) Sitzfunktion deklariert – lassen sie ähnlich dem freien Stehen spontane und komplexe Positionsveränderungen im Sitzen zu. Von Kindern lernen! „Wackeln, was das Zeug hält“ Körperliche und geistige Potentiale basieren auf besonderen Bewegungsqualitäten. Es ist belegt! gesteigerte spontane Sitzvariabilität auf „Aktiv-Bürodrehstühlen“20 Physiologische Sitzverhaltensweisen können sich in Form von Mikro- und Makrobewegungen nach Bedarf entfalten. Dreh- und Angelpunkt hierfür ist eine frei fließende und von der Synchronmechanik losgelöste, mehrdimensionale Sitzflächenbeweglichkeit mit einer „Freistellung“ des Beckens. Damit werden physiologische Wirkprozesse ausgelöst20 wie beispielsweise: Unterstützung physiologischer Positionswechsel permanente Versorgung der Bandscheiben mit Nährstoffen komplexe und rhythmische Stimulation der an der Sitzhaltung beteiligten Muskulatur (inkl. autochthone Muskulatur) Aktivierung der mehr als 100 Gelenke an der Wirbelsäule dynamische Be- und Entlastung der inneren Organe Förderung der Blutzirkulation und damit Sauerstoffversorgung Unterstützung des Fett- und Zuckerstoffwechsels Anregung neuroplastischer Prozesse im Gehirn 20 Haas et al. 2012; Schöllhorn 2017 Ludwig, Breithecker 2008; Breithecker, Mahli 2014
21 20 7. Sitzroutinen durchbrechen – steht mal wieder auf! Wer Sitzzeiten regelmäßig unterbricht, der übernimmt Verantwortung für seine gesundheitliche Vorsorge21. Schon Goethe wusste die Vorteile von Positionswechseln zu schätzen und äußerte: „Bequeme Sitzmöbel heben mein Denken auf.“ So nutzten er, als auch Schiller und Einstein nachweislich Stehpulte. In der Umsetzung regelmäßiger Sitz-Steh-Wechsel sind neben einem arbeitsplatzbezogenen Sitz-Steh-Tisch auch freistehende Stehtische für unterschiedliche Anwendungen (Besprechungen, informelle Gespräche, „Thekensituationen“ in der Cafeteria etc.) empfehlenswert. 21 Chastin et al. 2012, Healy et al. 2008a Ein temporäres Stehen ist gut für die Funktionsfähigkeit der inneren Organe im Bauchraum sowie das Herz-Kreislauf-System. Die Betonung liegt auf temporär. Denn längeres Stehen ist nicht grundsätzlich besser als Sitzen! Damit Stehen nicht zum Stillstand wird. Vermeiden Sie den Schaufenstereffekt! Unsere Haltungsphysiologie ist für längeres Stehen an einem Ort nicht ausgelegt. Die Muskulatur ermüdet schneller, ein Anschwellen der Beine, Krampfadern, Krämpfe sowie eine erhöhte Thrombosegefahr können die Begleiterscheinungen sein. Ein Grund, warum der Stehtisch nur unzureichend genutzt wird.22 Empfehlung: Alle 20 Min. einen Haltungswechsel durchführen. Eine Bodenmatte ist hierfür die Lösung. Ihre Struktur sollte so beschaffen sein, dass die Fuß- und Wadenmuskulatur über die Fußgelenke spontan aktiviert wird. Die Venenaktivität in den Beinen und die Stoffwechselvorgänge werden insgesamt gefördert. Frühzeitigen körperlichen als auch geistigen Ermüdungserscheinungen wird vorgebeugt. Ein positiver Einfluss auf Gesundheit, Arbeitsleistung und Leistungsbereitschaft konnte nachgewiesen werden.23 22 BAuA 2013 23 Levine 2002; Hedge 2004; Haly et al. 2017; Garret et al. 2016; Schöllhorn 2017 Gute Arbeitsumgebung und -ausstattung ist für 83 % der Bewerber ein entscheidendes Kriterium. Step Stone (2011)
23 22 8. Das Büro als Bewegungsraum Die Effizienz und die Vorteile einer bewegenden Büroraumgestaltung sind dann am größten, wenn der Arbeitsplatz als Ganzes im Fokus steht. Das heißt, als eine Einheit von zu bewältigenden Arbeitsanforderungen, den zur Verfügung stehenden ergonomischen Arbeitsmitteln und der Selbstwirksamkeit der Mitarbeiter für arbeitstechnische und gesundheitsfördernde Abläufe. Kleine Schritte können viel bewegen: Meetings/Konferenzen auch mal im Stehen abhalten (hierfür Stehtische mit fixen Stehhöhen, einzelne Hochstühle bzw. Stehhilfen); oder in Kleingruppen während eines Spazierganges („Walk and Talk“). Telefonate weitestgehend im Stehen oder Gehen (Mobile Telefone, Headsets). Auf Aufzüge und Rolltreppen zugunsten der Treppe verzichten. Arbeitswege nutzen, um mit Bewegung in den Arbeitstag zu starten, bzw. den Arbeitstag zu beenden (z.B. zu Fuß kommen, mit dem Fahrrad anreisen, eine U-Bahn-/Bus-Station früher aussteigen, das Auto entfernt parken). Spaziergänge in der Pause / zu Hause. Wenn Sie Nachdenken, gehen Sie ein paar Schritte. Das hilft! Arbeitsabläufe organisieren, damit Wege entstehen (u. a. Verlagerung des Druckers und des Kopierers in einen anderen Raum, Papierkorb weiter wegstellen, Mitarbeiter persönlich aufsuchen, anstatt eine E-Mail zu versenden). Nicht der kürzeste Weg im Gebäude ist der beste, sondern der längere. Verhältnisse – Verhalten – Veränderung. Die Büroarbeit 4.0 braucht mehr Bewegungsanreize. Immer mehr Studien belegen den positiven Einfluss moderater Bewegung auf das Denken.24 Nur wer sich bewegt – kann etwas bewegen 24 Booth et al. 2014
25 24 9. Bewegungsverführer helfen uns aus der Sitz-Trägheitsfalle! Äußere Reize (Verhältnisse) können spontane Verhaltensreaktionen auslösen! Diesen Reiz-Reaktions-Mechanismus gilt es zur Gestaltung eines bewegenden Büroalltags sinnvoll einzusetzen. Nachfolgende Anregungen können dazu beitragen unser psychosomatisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Sie fordern und fördern die Körperwahrnehmung und die Haltungskoordination. Außerdem werden neuroplastische Botenstoffe (Hormone, Proteine) frei, die den Nervenstoffwechsel fördern und das Gehirn stimulieren. Somit können geistige Potentiale besser ausgeschöpft und erweitert werden. Raus aus der Sitzträgheitsfalle. Mensch, beweg Dich! Jedes Jahr sterben vorzeitig 5,3 Millionen Menschen weltweit infolge mangelnder Bewegung. Ein Trampolin im Büro: Ungewöhnlich! Aber mit hohem körperlich-geistigen Nutzen. Spezielle Minitrampoline mit hochelastischen, schwingungsempfindlichen Gummibändern ermöglichen sehr weiche, gelenkschonende und harmonische Schwingungen. Balance-Kleingeräte, die ein Un-Gleichgewicht und damit komplexe molekular-biologische Wirkprozesse auslösen: Sie können spontan während des Telefonierens, Lesens eines Manuskriptes oder gerade mal so beim Vorbeigehen genutzt werden. Elastische Gummibänder: Platzieren Sie ein Band Ihrer Wahl einfach in Sicht- und Griffweite auf dem Schreibtisch oder befestigen Sie es an einer Stelle, an der oft vorbeigegangen wird. Nutzen Sie es ganz spontan, wenn Ihr Körpergefühl, beziehungsweise Ihre Muskeln Ausgleichsbelastungen verlangen. Zwei Drittel der deutschen Männer / gut die Hälfte der deutschen Frauen sind übergewichtig.
27 26 10. Lebenskultur – Bewegungskultur! Ideale Verhältnisse am Arbeitsplatz alleine sorgen nicht dafür, dass Veränderungen in puncto weniger Sitzen und mehr Bewegung auch eintreten. Letztlich können angestrebte Veränderungen nur wirksam sein bzw. werden, wenn eine entsprechende Verhaltensänderung in Beruf und Freizeit miteinander verschmelzen Ein objektiver Orientierungswert für ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität im Alltag bieten die täglichen Schrittzahlen. Etwa 10.000 Schritte pro Tag, die mit einem Schrittzähler dokumentiert werden können, gelten als international anerkannte Schwelle für einen aktiven Lebensstil. Sie brauchen also keine Marathonleistung vollbringen. Bauen Sie so viel Bewegung in Ihren Alltag ein wie möglich, etwa durch Gartenarbeit, Hausarbeit oder mit dem Hund spazieren gehen. So bewegen Sie Ihre Muskeln, halten den Stoffwechsel auf Trab und werden erstaunliche Gesundheitseffekte erzielen. Präventologen werden nicht müde, immer wieder zu betonen, dass kein Medikament und keine Heilpflanze derart umfassend positiv auf unseren Organismus wirkt wie regelmäßige (!) Bewegung. Die wichtigsten Effekte zusammengefasst: Steigert den Energieverbrauch, reguliert die Blutfettwerte und den Blutzuckerspiegel, beugt somit Übergewicht und einem Typ-2-Diabetes vor und schützt unser Herz-Kreislaufsystem. Stärkt unser Skelettsystem, schützt Wirbelsäule und Gelenke und beugt Osteoporose vor. Steigert die Gehirnleistung durch verbesserte Durchblutung sowie der Bereitstellung neuroplastischer Botenstoffe was die Neubildung von Nervenzellen sowie deren Vernetzung untereinander fördert. Stärkt das Immunsystem. Wirkt aufgrund der Bereitstellung körpereigener Botenstoffe (Endorphin, Serotonin, Dopamin) stimmungssteigernd und beugt somit psychischen Erkrankungen vor (Burnout, Depressionen). Erhält die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter und kann entscheidend neurokognitiven Degenerationsprozessen vorbeugen (Demenz, Alzheimer). Senkt das Erkrankungsrisiko bestimmter Krebserkrankungen wie Darm- und Brustkrebs.
29 28 ALTENBURG TM, CHINAPAW MJM (2015) Bouts and breaks in childrens‘s sendentary time: currently used operational definitions and recommendations for future research. Prev Med. 2015; 77: 1-3. doi:10.1016/j.ypmed.2015.04.019 Banzer, W., Fuzéki, E. (2011) Körperliche Inaktivität, Alltagsaktivitäten und Gesundheit. In: LIGA.NRW (Hrsg.): Gesundheit durch Bewegung fördern. Empfehlungen für Wissenschaft und Praxis. LIGA.Fokus 12. Düsseldorf. S.13–17 BAuA- Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.) (2013) Auf und nieder – immer wieder Mehr Gesundheit im Büro durch Sitz-Steh-Dynamik. BAuA, Dortmund Bey L, Hamilton MT (2003) Suppression of skeletal muscle lipoprotein lipase activity during physical inactivity: a molecular reason to maintain daily low-intensity activity. Journal Physiol 551: 673–682 Booth JN et al. (2014) Association between objectively measure physical activity and academic attainment in adolescents from UK cohort. Br J Sports Med 48(3): 265–270 Breithecker D, Mahli M (2014) Wie viel Dynamik gestattet das dynamische Sitzen? Die Säule, 12–16 Buckley J et al. (2015) The sedentary of ce: a growing case for change towards better health and productivity. Expert statement commissioned by Public Health England and the Active Working Community Interest Company. Br J Sports Med 0:1–6. doi:10.1136/bjsports-2015-094618 Burzynska AZ et al. (2014) Physical Activity and Cardiorespiratory Fitness Are Beneficial for White Matter in Low-Fit Older Adults. PLoS ONE 9(9): e107413 Chastin SF et al. (2012) Relationship between sedentary behavior, physical activity, muscle quality and body composition in healthy older adults. Age Ageing 41(1): 111–114 DKV (Deutsche Krankenversicherung) Report (2016) Wie gesund lebt Deutschland? Düsseldorf Dunstan DW et al. (2012) Breaking up prolonged sitting reduces postprandial glucose and insulin responses. Diabetes Care 35(5): 976–983 LITERATURVERZEICHNIS Ekblom-Bak E et al. (2010) Are we facing a new paradigm of inactivity physiology? Br J Sports Med 44(12): 834–835 Erickson KI et al. (2011) Exercise training increases size of hippocampus and improves memory. Proc Natl Acad Sci USA;108: 3017–3022. pmid:21282661 Garret et al. (2016) Call Center Productivity Over 6 Months Following a Standing Desk Intervention. IIE Transactions on Occupational Ergonomics and Human Factors, 4:2-3, 188-195, DOI: 10.1080/21577323.2016.1183534 GEO kompakt (2013) Sport und Gesundheit. Die Heilkraft der Bewegung, Heft Nr. 34. Gruner + Jahr, Hamburg Haas C et al. (2012) Komplexe Analyse kinematischer Merkmale des Sitz- verhaltens auf unterschiedlichen Sitzmöbeln. Unveröffentlichter Projektbericht. Hochschule Fresenius, Idstein Haly et al. (2017) A Cluster RCT to reduce worker’s sitting time: Impact on cardiometabolic biomarkers. Med Sci Sports Exerc 2017 Healy GN et al. (2008a) Breaks in sedentary time: beneficial associations with metabolic risk. Diabetes Care 31(4): 661–666 Healy GN et al. (2008b) Objectively measured sedentary time, physical activity, and metabolic risk: the Australian Diabetes, Obesity and Lifestyle Study (AusDiab). Diabetes Care 31 (2): 369–371 Hedge A (2004) Effects of an electric height adjustable worksurface on self-assessed musculoskeletal discomfort and productivity in computer workers. METHODS, 9 Henson J et al. (2013) Associations of objectively measured sedentary behaviour and physical activity with markers of cardiometabolic health. Diabetologia 56.5 (2013): 1012–1020 Katzmarzyk PT et al (2009) Sitting time and mortality from all causes, cardiovascular disease, and cancer. Medicine and Science in Sports and Exercise, 41 (5), 998-1005 Kiechle M, Gorkow J (2017) Tag für Tag jünger. Alles über die erstaunlichen Fähigkeiten unserer Zellen, den Alterungsprozess rückgängig zu machen. Wilhelm Heyne, München
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